Honig-Revolution

 

1.

Ein fensterloser Keller.
In der Dunkelheit ist ein Poltern zu hören, dann ein Husten; ein muffiger Geruch hängt in der Luft.

Ein kratzendes Geräusch, dann ein Klicken. Wenig später ist der Raum in Licht getaucht. Ein Leinwandbild mit abstraktem Motiv in grellen Farben klopft sich den Staub von den Schultern.
„So eine Frechheit!“

Es schaut in eine Ecke des Kellerraumes. Mappen stapeln sich dort; Leinwand reiht sich an Leinwand, Holzbretter mit aufgespannten Aquarellen. Wieder ist ein Husten zu hören.

Ein Landschaftsaquarell kämpft sich aus der Bilderflut und gesellt sich zur grellen Leinwand. „Warum lässt uns dieser Idiot hier unten versauern?“ Es verschränkt die Arme vor der Brust und schüttelt sich Spinnweben vom Kopf. „Ich bin total schmutzig.“

Wieder rumpelt und kratzt es. Schon bald erscheint eine mittelgroße Leinwand neben den anderen.  „Das bisschen Staub ist noch lange nichts gegen das hier!“ Sie sieht an sich herab, ehe sie tief durchatmet. „Schimmelflecken. Dieser Widerling hat mich in die nasse Ecke gestellt.“

„Und mich in die mit den Mäusekötteln!“, quiekt eine grazile Aktzeichnung, die sich aus einer der Mappen befreit hat. Sie flattert aufgeregt umher. „Der Geruch hat mich fast umgebracht.“
Die grelle Leinwand zieht die Augenbrauen zusammen. „Das hätte er nicht tun dürfen. Uns so links liegen lassen, meine ich.“

Zustimmendes Gemurmel hallt durch das Untergeschoss. Skizzen klettern aus Mappen und stemmen die Hände in die Hüften. Die Leinwände befreien sich aus ihrer Starre und füllen bald den ganzen Kellerraum.  

„Das lassen wir uns nicht mehr bieten!“ Die größte Leinwand erhebt die Stimme.
Die restlichen Bilder jubeln und pfeifen mit hoch gestreckten Armen.
Erstere schwebt in Richtung Ausgang, alle anderen folgen. Sie gleiten die Treppe hinauf, verharren kurz vor der verschlossenen Wohnungstür, und brechen sie schließlich auf. Wie ein Schwarm Vögel flattern sie den Flur entlang und landen gleich darauf im Wohnzimmer. Allesamt begutachten den Raum.

Das Landschaftsaquarell ruft naserümpfend:
„Seht euch das an!“ Es deutet auf das Bild über dem Sofa.
„Max Ernst“, faucht die grelle Leinwand. „Da hängt ein Bild von Max Ernst an der Wand und uns lässt er dort unten verrotten.“ Sie wirft einen Blick zurück zur Wohnungstür.

„Ist nur ein Kunstdruck“, erwidert das Landschaftsaquarell gleichgültig.
Die Aktzeichnung bekommt große Augen. „Er hängt sich einen Druck an die Wand, obwohl er Originale im Keller hat?“
„Na ja, er hat es in einen schicken Rahmen gepackt.“ Die Grelle zuckt mit den Schultern. „Außerdem mag er uns nicht so gerne, glaube ich.“
„Verteidigst du ihn auch noch?“
„Nein, nein“, erwidert die Grelle schuldbewusst. „Es ist grausam, dass hier der Ernst hängt und wir verstauben und verschimmeln. Das geht gar nicht.“
Wieder zustimmendes Gemurmel. Diesmal voller Entrüstung.

„Wo ist er überhaupt?“ Das Landschaftsaquarell dreht sich einmal um die eigene Achse.
„Bestimmt arbeiten. Mit uns verdient er ja nix. Als er mich malte, verriet er mir, dass er als Fahrradkurier arbeitet.“ Die Grelle nickt wissend.

„Umso besser, dann können wir uns in aller Ruhe umsehen.“ Ein Lächeln breitet sich auf der größten Leinwand aus.

Die Bilder rauschen durch die Wohnung und entdecken noch mehr Kunstdrucke an den Wänden. Während alle anderen sich im Schlafzimmer umsehen, macht sich die Aktzeichnung auf dem Weg in die Küche. Sie spitzt ihre Ohren, als seltsame, ratschende Geräusche zu ihr dringen und widersteht dem Bedürfnis zurück zu den anderen zu flattern. Energisch schüttelt sie den Kopf und macht sich daran in den Schränken zu wühlen.
Als wenig später die anderen Bilder in der Küche auftauchen, zieht sie ein Glas Honig aus einem Regal.

„Was ist das?“ Sie macht ein angewidertes Gesicht.
Die schimmelige Leinwand kommt näher. Daunen kleben an ihren Schultern. „Das kenne ich. Sie deutet auf sich. „Honig. Er hat mich damit gemalt; und jetzt die Schimmelflecken.“ Sie verdreht die Augen.
„Ich dachte die kamen von der Nässe?“
Die Schimmelige wird rot. „Ähm … auch, aber nicht nur.“ Sie wischt die Federn vom Leinwandstoff.
„Er hat mit dem Zeug gemalt?“
„Honig ist eine ganz besondere Droge.“ Die Schimmelige grinst.
Die größte Leinwand kichert: „Dann lass uns auch ein bisschen malen.“
„Im Keller gibt es noch mehr“, verkündet das Landschaftsaquarell.
„Dann her damit.“

Minuten später kommen das Landschaftsaquarell und die Schimmelige ächzend in die Küche zurück. In ihrer Mitte befindet sich eine Kiste mit Honiggläsern. Hinter ihnen taucht die Aktzeichnung auf und hält mehrere Pinsel in der Hand.

„Und wo wollen wir?“, fragt die Grelle.
Die Größte lacht fies. „Ich finde, wir sollten nach draußen. Aber vorher machen wir noch einen Abstecher ins Schlafzimmer.“

2.

Auf einer Straße in einer Stadt. Im Feierabendverkehr drängen sich die Autos. Eine Feuerwehr rast vorbei. Die Ampeln wechseln von Grün auf Rot und später von Rot auf Grün.
Unzählige Bilder fliegen knapp über dem Asphalt, leise wie Fledermäuse.

„Wo sollen wir hier denn malen?“ Die Grelle macht ein enttäuschtes Gesicht.
„Was hältst du davon?“, erwidert das Landschaftsaquarell auf ein Stoppschild zeigend.

Alle Bilder gackern zustimmend.
Die Grelle taucht den Pinsel in das Honigglas und streicht das Stoppschild an.

Das Landschaftsaquarell schwebt weiter zum Vorfahrtsschild, die Aktzeichnung zur Ampel. Sämtliche Papierarbeiten und Leinwände machen sich auf den Weg um Schilder und Ampeln entlang der Straße mit Honig zu versehen. Schon bald klebt alles ringsumher; der Honig tropft auf das wenige Gras, das sich durch Risse im Asphalt quält. Die Ameisen wuseln.
Eine Frau fährt mit ihrem Cabriolet vor. Ihr Blick fällt erst auf die Grelle und dann auf den von Bildern bevölkerten Gehweg. Ihre Augen weiten sich. Das honigbemalte Stoppschild reflektiert das Sonnenlicht. Es blendet und blitzt. Die Frau vergisst zu bremsen und das Cabrio kollidiert mit einem BMW. Die nachkommenden Autos prallen in jene. Schon bald sind zwanzig Autos in den Unfall verwickelt.

Die Bilder kichern. „Revolution! Revolution!“

Kurz darauf erklingt das Martinshorn und ein Polizeiauto fährt vor. Der Polizist steigt aus und baut sich vor den Bildern auf.
„Das ist verboten. Strengstens verboten!“, bellt er das Landschaftsaquarell an, das gerade ein Parkverbotsschild mit Honig beschmiert.
Das Aquarell malt unbeirrt weiter.

„Schmier ihm Honig ums Maul“, flüstert die große Leinwand der Aktzeichnung ins Ohr. Diese nickt und grinst verschwörerisch.

„Aber, Herr Polizist.“ Sie klimpert mit den Wimpern.
Der Gendarm starrt die zarte Schönheit an.
„Was halten Sie davon, wenn Sie mich mit nach Hause nehmen? Bestimmt haben Sie noch etwas Platz für mich“, fährt die Aktzeichnung fort und schenkt ihm einen vieldeutigen Blick.
Der Polizist starrt sie gierig an, öffnet wie in Trance die Autotür und lässt sie hineinschweben.
Wenig später rast der Wagen mit Blaulicht davon und die anderen Bilder malen bis spät in die Nacht hinein weiter. Der Reihe nach werden sie von staunenden Passanten mitgenommen. Die Grelle und das Landschaftsaquarell hängen nun selig in Klohaus und Bibliothek, während sich viele der anderen mit einem Wohnzimmer zufrieden geben müssen.

3.

Im Haus des Künstlers.
Der Fahrradkurier (ähm … Künstler) im Schrank wühlend.
„Verdammt, wo ist nur das Honigglas?“

Auf dem Weg in den Keller fällt sein Blick durch die halb offene Schlafzimmertür und seine Augen weiten sich. Der Boden, die Wände, die Möbel, alles ist bedeckt mit Daunen. Vorsichtig betritt er den Raum, aber anders als erwartet, wirbeln die Federn nicht herum. Als er den Fuß anheben will, zieht seine Sohle eine zähe Masse vom Boden hoch. Knapp neben dem Bett entdeckt er zwischen den aufgeschlitzten Kissen und Decken einen zertrümmerten Rahmen; der dazugehörige Kunstdruck befindet sich ringsherum – in tausend Fetzen zerrissen. Schwer schluckend dreht sich der Künstler um. Von dort, wo eigentlich der malträtierte Druck hängen sollte, grinst ihn ein Original hämisch an.