Liebe

 

Summend sitzt er am Tisch, wippt vor und zurück. Sie nimmt neben ihm Platz.
Was möchtest du essen?
›…‹
›Schau mich an.‹
›…‹

›Was … schau mich an, Jonah. Möchtest du ein Marmeladenbrot?‹

Blick nach unten gerichtet.
Ein Honigbrot?‹
›…‹
›Jonah, ein Honigbrot?‹
›…‹

Das Wippen nimmt ein Ende. Augen glasig, nach innen blickend. ›Honigboot.‹
Sie denkt an seine ersten Lebenstage. Damals hat er geschrien, weil er an ihren Busen wollte, was er nicht konnte, was sie nicht akzeptierte - sie zwang ihn dazu, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Seitdem zwingt er sie jeden Tag, nicht zu scheitern.

Er steht ganz vorne im Bus, schaut auf die vorbeifahrenden Autos.
Eins. Bei. Dei. Vier. Fünf. … Beiundbambig. Deiundbambig. Vierundbambig. … Neunundfünfbig. Sechbig. Einundsechbig. … Siebbig. Einundsiebbig–‹ Er unterbricht sich, ehe er weiterspricht. ›Mama, P und I, der kommt aus Pinneberg.‹ Er deutet auf ein Nummernschild.
Sie nickt. ›Du hast recht, der kommt aus Pinneberg.‹
Später zieht er an ihrer Jacke.
Achthundertbambig Pädse frei.‹
Ihr Blick folgt dem seinen, sie erkennt das Parkhaus, an dem das Fahrzeug gerade vorbeifährt. Auf der Anzeigetafel steht 820.
Gleich darauf rüttelt er wieder an ihrem Arm, seine Augen leuchten. ›Mama, dort … sechs Busse halten hier. 116, 34, 251, 214, 75, 279.‹
Sie schaut auf das Schild an der Bushaltestelle, lächelt in sich hinein und nickt. Weil sie seine Worte nicht mit Worten bestätigt, wiederholt er die Busnummern, drängt um Anerkennung.
Du hast recht, Jonah, hier halten sechs Busse‹, sagt sie, ehe sie ihn zum Weitergehen auffordert.

Auf dem Weg zum Bahnsteig, erzählt er ihr von seinem neuen Lehrer; formt den Namen, müht sich ab, aber sie versteht ihn nicht. Manche Laute kommen anders heraus, als von ihm gewollt.
Sie wiederholt das Gesagte, wandelt es innerlich um, versucht verzweifelt den Namen herauszufinden, spricht ihn aus, doch jedes Mal schüttelt er den Kopf. Tränen glitzern in seinen Augen. Hilflos schaut sie ihn an, will in seine Welt vordringen, aber es gelingt ihr nicht.
Er wischt die Tränen weg, wird zornig, beginnt zu toben: Fäuste fliegen, Steine fliegen. Kratzen, kneifen, boxen. Zerstörung.
Sie umhüllt ihn, versucht in aufzufangen, hört im Hintergrund verärgertes Gemurmel.
Schlecht erzogen.‹
Antwort, mit gedämpfter Stimme: ›Nein Frank, mit dem stimmt was nicht.‹
Ein kleines Mädchen fragt: ›Papa, warum hat der Junge so komisch geredet? Und warum haut er seine Mama?‹
Schritte entfernen sich. Der Vater bleibt seiner Tochter die Antwort schuldig.
Er beruhigt sich in ihren Armen, die Kratzer in ihrem Gesicht schmerzen weniger, als die Worte und Blicke der Passanten.

Die Rolltreppe rollt
nach unten;
er rollt mit, sie rollen zusammen.
Sie beobachtet ihn, er ist wieder bei sich; sie will wissen, wie es in ihm aussieht, will mit ihm miterleben, findet aber doch keinen Zugang.

Er schaut auf das Bahngleis; konzentrierter Blick, alle Dinge werden in Augenschein genommen, kein Detail entgeht ihm.
Sie lächelt und denkt: Du weißt, worauf es ankommt; nicht immer, aber manchmal.
Jonah?‹
›…‹
›Jonah?‹
›...‹
›Ich hab dich lieb.‹
›…‹
›Ich ... schau mich an, Jonah.‹

Die Bahn fährt ein, seine Augen tasten jeden Zentimeter ab.
Schau mich an. Ich habe etwas gesagt. Zu dir.‹
›…‹
Weit weg.

Schau mich an.‹
Hand unters Kinn geschoben. Blicke treffen sich; seiner nach innen gerichtet, ihrer folgt dem seinen, aber sie findet ihn nicht.
Hinter ihr summen die Bremsen.
Ich hab dich lieb.‹ Flüsternde Stimme.
Anstatt einzusteigen, zieht er an ihrer Hand; er läuft ganz nach vorne, dort wo er jeden Morgen auf die einfahrende Bahn wartet, dort, wo er immer die Lichter betrachtet, die Bahnnummer, die Endhaltestelle. ›S31 fährt nach Altona.‹
›Du hast recht, sie fährt nach Altona. Aber jetzt müssen wir einsteigen, sie fährt gleich los.‹

 

Im Zug bleibt er stehen, damit er an jeder Station die Tür öffnen kann. Das beruhigt ihn, es muss so sein, bei jeder Bahnfahrt, egal wohin. Sanft drückt sie seine Hand, ein wenig stolz, weil er so viel weiß, weil ihm nichts entgeht, wenn er von etwas begeistert ist.

 

Sie schaut ihn an, fragt sich, was in ihm vorgeht, während er darauf wartet, dass die Bahn hält, um Pendler ein und aussteigen zu lassen, wobei sie zeitgleich Traurigkeit in sich empfindet – wenn sie ihn so sieht, mit starrem, ernstem Blick, woanders, in seiner Welt. Sie schließt kurz die Augen, hofft, dass er auf anderem Wege wahrnimmt, was sie ihm mit Worten zu sagen versuchte.
Geisbauarbeiten am Wochenende.‹ Seine Hand liegt locker in ihrer als er die Lautsprecherdurchsage wiederholt.